«Moral oder Politik? Moral und Politik!»

Ist der Vorwurf der Hypermoral gegenüber den Jugendlichen der Fridays-for-Future-Bewegung berechtigt? Sie verletzen die Schulpflicht, um öffentlichkeitswirksam der Auto- und Flugreisengesellschaft den unverantwortlichen ökologischen Fußabdruck vor Augen zu halten und ihrer Forderung nach einer radikalen ökologischen Transformation Nachdruck zu verleihen, gerichtet an die Politik wie an jeden Einzelnen.

Hypermoralisch, so der Vorwurf, seien diese Aktivistinnen und Aktivisten wie auch weitere Vertreter des ökologischen Spektrums, weil die hier eingeforderten ethischen Maßstäbe des Universalismus mit den um den Globus und in die Zukunft gezogenen Verantwortungslinien den Menschen überforderten und tatsächlich ohnehin nur Ausdruck einer partikularen politischen Weltsicht seien. Zudem führe ein Selbstverständnis, das schlechthin Gute zu vertreten, zu moralischer Überheblichkeit und zur Herabsetzung von Andersdenkenden. Dieser Vorwurf richtet sich im Kern gegen alle Menschen, die für ein anderes Mobilitäts- und Konsumverhalten eintreten und die auch versuchen, selbst ein anderes Verhalten zu praktizieren. Was ist davon zu halten?

Um mit dem letzten Aspekt zu beginnen: Nicht nur die Einforderung, schon die Praxis einer ökologisch verantwortlichen Lebensweise ruft heftige Gegenreaktionen hervor. Denn die Weiter-so-Fraktion nimmt nicht so sehr die sachliche Kritik wahr, wonach sie ökologisch auf zu großem Fuß lebt, sondern spürt hier vor allem eine Beimischung von ästhetischen und kulturellen Werturteilen walten: nämlich, dass die fahrradfahrende ökologische Zeitgenossin mit der vorwurfsvollen Aufstellung der CO2-Bilanz des automobilen Individualverkehrs in Wahrheit nur ihre persönliche Abneigung vor allem gegen SUVs und ihre Fahrer verbrämt. Ein moralisierender Zug in der öffentlichen Auseinandersetzung ist in der Tat dann illiberal, wenn der eigene Lebensstil der Nachhaltigkeit unter dem weiten Mantel einer universalistischen Moral als der kulturell und ästhetisch alternativlose vorgestellt wird. Sollte es zum Beispiel einen mit regenerativer Energie betriebenen Elektro-SUV geben und auch die Probleme in der Energiebilanz bei der Herstellung gelöst sein, dann mag es immer noch andere Gründe gegen den automobilen Individualverkehr geben, aber jedenfalls keine, die mit der existentiellen Gefahr des Treibhauseffekts argumentieren könnten.

Wenn daher Sachlichkeit statt Lebensstilwettbewerb als das gebotene Merkmal der Auseinandersetzung erscheint, heißt dies aber nicht, dass es keine moralische Dimension gibt. Diese ist jedenfalls dann gegeben, wenn man ein bestimmtes normatives Selbstbild teilt, wonach wir als Menschen gleich und frei sind. Dann kann die Freiheit, eigene Zwecke setzen und verfolgen zu können, widerspruchsfrei nur behauptet werden, wenn sie auch allen anderen Menschen zugesprochen wird. Zu diesem Selbstbild gehört weiterhin, dass Menschen als Subjekte einer moralisch-praktischen Vernunft über die Fähigkeit verfügen, ihr Handeln nach Regeln auszurichten, die den Kriterien der Verallgemeinerbarkeit, der Fairness, der Wahrhaftigkeit genügen.

Handele ich auf der Basis einer Maxime, von der ich wollen kann, dass sie als allgemeines Gesetz auch das Handeln anderer anleitet? Legen wir diesen Universalisierungsgrundsatz von Kants kategorischem Imperativ an, ist offensichtlich, dass zahlreiche Handlungsweisen aufgrund ihres ökologischen Fußabdrucks eben nicht verallgemeinerbar sind, also von allen Menschen praktiziert werden könnten. Das Global Footprint Network hat ausgerechnet, dass wir bei weltweit unveränderten Konsumstilen und Wachstumsraten im Jahr 2030 die Biokapazität einer zweiten Erde benötigen würden. Am Status quo festhalten zu wollen, dabei kritische ethische Rückfragen als Hypermoral zu disqualifizieren, kommt einem zeitgenössischen Feudalismus gleich, der nur partikulare Privilegien verteidigen will und die Reichweite der Folgen individueller Handlungen in Zeit und Raum verleugnet. Die individualethisch begründete Forderung, einem sozusagen ökologisch aktualisierten Sittengesetz zu entsprechen, ist also nicht von der Hand zu weisen.

Allein, solange sich das Verhalten nicht massenhaft ändert, wird durch die individuellen Verhaltensänderungen kein materiell wirksamer Beitrag zur Lösung des Problems geleistet. Natürlich ist es ethisch richtig, den einmal erkannten Zusammenhang auch individuell umzusetzen und zu versuchen, die eigene Mobilität klima-neutral zu gestalten, das heißt, nach Möglichkeit z. B. auf Flugreisen zu verzichten oder wenigstens den entsprechenden Obolus bei «atmosfair» zu entrichten. Aber nicht nur sind hier die Bedingungen der Möglichkeiten für die Einzelnen objektiv durch Wohnort, Geldbeutel, Zeitressourcen unterschiedlich, sondern ich kann auch nicht sicher sein, dass die anderen eine vergleichbare ökologische Gewissensentscheidung treffen und meine CO2-Reduktionen sogar überkompensieren.

Das soll keine zynische Einladung zum Weiterso sein, sondern vielmehr den Blick dafür schärfen, wo die Grenzen der Individualethik liegen und was demgegenüber eine wirksame Lösung verspricht: Politik. Wir sollten also vor allem als Mitglieder einer Bürgerschaft aktiv werden und uns mit allem Nachdruck für das einsetzen, was einen wirksamen Beitrag zu leisten verspricht, nämlich allgemeinverbindliche Regeln – in Form von Steuern, Subventionen, Entzug von Subventionen, von Ge- oder Verboten und Infrastrukturleistungen und Verträgen in der Außenwirtschaftspolitik und vielem mehr. Hier ist der politische Streit gefragt, was im Sinne einer Problemlösung in der Sache am effektivsten ist, und hierfür müssen demokratische Mehrheiten organisiert werden. Darin liegt die eigentliche politische Qualität der Appelle von Greta, Luisa, Jakob und den Tausenden anderen an unser aller Vernunft und Gewissen.


Tine Stein ist Professorin für Politische Theorie an der Georg-August-Universität Göttingen und Mitglied in der Mitgliederversammlung und im Aufsichtsrat der Heinrich-Böll-Stiftung.

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